Seinen Lebensweg schreibt sich jeder selbst
Lukáš Dubský 15. Februar 2022 zdroj www.i-divadlo.cz
Das Märchenmusical Schneewittchen und ich wurde vom Stadttheater Brno als Weltpremiere aufgeführt. Dabei handelt es sich jedoch nicht um ein Stückn aus der Feder des hiesigen künstlerischen Teams. Einer der Autoren des Librettos ist der bekannte Szenarist Philip LaZebnik, dessen Musical The Prince of Egypt in den letzten Monaten in einem der größten Theater des Londoner West End gespielt wurde.
Die Märchenwelt ist in Gefahr – die böse Königin will die glücklichen Ausgänge aller Märchen ändern, weil sich nicht duldet, dass jemand ihre dominante Stellung auf dem Märchenthron bedroht. Der erfolglose Prinz Florian macht sich auf, Hilfe zu suchen, und irgendwie gelingt es ihm, die zwei Mädchen Sarah und Daisy aus der realen Welt durch einen Spiegel in die Märchenwelt zu holen. An ihnen liegt es nun, die Märchenfiguren zu überzeugen, dass nichts im Leben fest vorbestimmt ist und dass auch sie sich ihrem vorgegebenen Schicksal widersetzen können.
Der Grundgedanke des Librettos wird sehr prägnant ausgedrückt – jeder ist der Autor seiner eigenen Lebensgeschichte, und für sein Glück ist jeder selbst verantwortlich. Man soll nicht nur blindlings den Erwartungen der Gesellschaft (oder der vorgegebenen Märchenhandlung) folgen. Die Handlung spielt sich überwiegend in Märchenkulissen ab, doch finden wir in Andeutungen auch moderne Themen wie etwa gesunde Ernährung oder Kindererziehung durch gleichgeschlechtliche Paare. Das Problem des Librettos, welches zusammen mit LaZebnik Ronald Kruschak schrieb, liegt darin, den Weg ins Ziel zu finden. Vor allem in der ersten Hälfte der Vorstellung zeigt die Handlung so gut wie keine Bewegung. Es finden sich Reminiszenzen an bekannte Märchen (Rotkäppchen, Hänsel und Gretel u. A.), die aber die Haupthandlung kaum weiterentwickeln und für sich allein auch nicht recht funktionieren. Wünschenswert wären deutlichere dramaturgische Eingriffe, um das Tempo der zweidreiviertel Stunden langen Vorstellung zu beschleunigen.
An manchen Stellen ließ für mich die Logik der Handlung etwas zu wünschen übrig. So ist mir etwa nicht ganz klar, was eigentlich geschehen ist, nachdem Schneewittchen von der Königin erstmals den vergifteten Apfel entgegennahm, und warum. Die Erklärung der gesamten abschließenden Wendung der Handlung steht etwas auf tönernen Füßen. Auch einige der Fallen, die die Königin zusammen mit Rumpelstilzchen und dem Wolf plant, ergeben keinen rechten Sinn.
Die Musik der Autorin Pippa Cleary ist insgesamt recht nett anzuhören, das Zeug zu einem Hit hat aber wohl nur der zentrale Song Ein glücklicher Märchentag. Die Komponistin hat keine einfachen Melodien geschrieben, wie man sie von einem Kindermusical vielleicht erarten würde, vor allem überrascht die Bandbreite der abgedeckten Genres. Von ihrer Interpretation her sind die Songs sehr schwierig, was auch die für das Brünner Ensemble ungewohnt große Zahl an kleineren Intonierungsfehlern erklären mag.
Schauspielerisch begeistert am meisten Barbora Goldmannová, deren Königin beispielhaft eitel und egozentrisch, aber auch in ironischer Weise unterhaltsam ist. Mit den gesanglich interessantesten Passagen kann ebenfalls gerade Goldmannová aufwarten. Gut funktioniert hier aber auch die Chemie zwischen Märchenwelt und realer Welt, und dies dank Eliška Bergerová (Sarah) und Barbora Slaninová (Daisy), denen es gelungen ist, markante und recht unterschiedliche Typen junger Mädchen zu erschaffen. Prinz Florian wirkt, so wie er von Ondřej Komínek gespielt wird, eher farblos, aber das dürfte wohl von der Regie so gewollt sein.
Kindermusicals kommen nicht ohne komische Helden aus, so gibt es etwa beim König der Löwen die Figuren Timon und Pumbaa oder bei Frozen den Schneemann Olaf. Im Musical Schneewittchen und ich erfüllen die komische Funktion die beiden „bösen“ Figuren des Wolfs (Aleš Slanina) und Rumpelstilzchens (Alan Novotný). Bisweilen sind die beiden allzu vordergründig unterhaltsam, allerdings gehen auf ihr Konto auch einige wirklich gelungene (und durchweg nicht gerade märchenhafte) Sprüche. Unter den vielen unterschiedlichen Märchenfiguren gelingt es am ehesten Kateřina Michejdová in der Rolle des Aschenputtels, möglichst viel aus ihrem relativ kleinen Raum zu schöpfen.
Sehr gelungen ist die Ausstattung des neuen Musicals. Christoph Weyers gestaltete die gesamte Szene wie ein geöffnetes Märchenbuch, das gleiche Motiv findet sich auch bei weiteren Bühnenbauten wieder. Die Kostüme aus dem Atelier von Andrea Kučerová lassen wiederum recht gut erkennen, wer wer ist, so dass die Namen der Märchenfiguren gar nicht ausgesprochen werden müssen, damit das Publikum sie erkennt.
Regisseur Stanislav Slovák hat eine Inszenierung geschaffen, zu der man mit ruhigem Gewissen auch Kinder mitnehmen kann, bei der sich aber auch erwachsene Zuschauer nicht langweilen müssen. Es fehlt dem Stück jedoch ein wirklich einzigartiger und erinnernswerter Moment, etwas, wofür man im Englischen den treffenden Ausdruck „showstopper“ hat.
Schneewittchen und ich – und alle wir Märchenliebhaber
(tr) 2. Februar 2022 zdroj www.brnozurnal.cz
Fliehen wir aus dem schwierigen Leben der heutigen Zeit in ein Märchen. Oder direkt in das Märchenreich, denn das neue Musical auf der Musikbühne des Stadttheaters Brno mit dem Titel Schneewittchen und ich verbindet mehrere bekannte und weniger bekannte Märchen miteinander. Kein leichtes Leben hatten in den letzten Monaten gerade auch die Theaterleute. Wer mehr über die schwierige Situation im Stadttheater erfahren möchte, dem empfehle ich zur Lektüre das Jahrbuch 2021 der Bühne.
Die Herausgeber widmeten anders als in früheren Jahren den größten Teil einer Auswahl von Briefen, die Theaterdirektor Stanislav Moša an sein Ensemble gerichtet hat. Wie Hauptredakteur Jan Šotkovský in der Einführung zum letztjährigen Jahrbuch schreibt, „beschreibt dieses authentische Dokument ausgezeichnet die außergewöhnliche Situation, mit der wir uns konfrontiert sahen, unsere berechtigten und wiederholt enttäuschten Hoffnungen, die Verzweiflung angesichts ungenügender oder chaotischer Anweisungen von den ,höheren Stellen´, aber auch die Entschlossenheit, die äußeren Schwierigkeiten zu überwinden…“. Übrigens wies der Regisseur Schneewittchens, Stano Slovák, am Samstag, dem 29. Januar vor der Öffnung des Vorhangs für die Weltpremiere darauf hin, dass man bei dieser Inszenierung erstmals nach längerer Zeit wieder die Einstudierung bis zum geplanten Termin geschafft habe. Und dass man auch am vorgesehenen Tag spiele, nachdem etliche der vorausgegangenen Inszenierungen zwar einstudiert worden seien, man sie aber teils erst ein Jahr später vor Publikum spielen konnte. Damit symbolisiert Schneewittchen die Erleichterung des Ensembles, welche jedoch nicht definitiv sein muss, denn dem Theater und uns allen drohen noch immer die Quarantäne oder weitere Ansteckungen durch ein gewisses Coronavirus…
Schneewittchen und ich ist eine großartige Vorstellung, welche die technischen Möglichkeiten der großen modernen Bühne voll ausnützt, dazu kommen vielerlei Licht- und Klangeffekte. Das Stück ist interaktiv, die Kinder antworten etwa spontan auf die Frage „Wo ist Rotkäppchen?“. Die Hauptfigur jedoch ist die Dame vom Plakat – nicht etwa Schneewittchen, sondern die Königin. Thalia-Preisträgerin Hana Holišová (auf der Premiere wie auf dem Plakat) gibt dieser Figur einfach alles – eine klangvolle und herrlich gefärbte reine Stimme, ihre Bewegungen, Grimassen, ihre ganze Anmut. Von allen dreißig Figuren verbringt sie die meiste Zeit auf der Bühne, radikal greift sie in die Handlung ein und versucht, die Enden der Märchen in ihrem Sinne zu verändern – Schneewittchen soll nicht durch ihrem Prinzen befreit werden, der Wolf soll Rotkäppchen und die Großmutter ungestraft verschlingen dürfen, die Kinder im Lebkuchenhaus sollen gebraten und verzehrt werden. Natürlich geht am Ende alles gut aus. In der Rolle der Königin alternieren die jüngeren Kolleginnen Barbora Goldmannová und Andrea Zelová. Jede ist ein wenig anders, beide sind fantastisch und übrigens Absolventinnen der Brünner Janáček-Akademie…
Schön ist auch die Handlung, wie Sie selbst bei einem Theaterbesuch feststellen können. Verraten sei nur so viel, dass die junge Daisy durch einen geborstenen Spiegel ins Märchenreich gelangt und sich in eine Prinzessin verwandelt. Dort trifft sie auf die gleichaltrige Sarah. Ihre Dialoge und Gesänge durchziehen die gesamte Vorstellung. Beim Publikum kommen die jungen, aber bereits geschulten Stimmen von Barbora Slaninová und Esther Mertová gut an. Letztere kann in ihrer Gestalt und ihrer Stimmfärbung die Gene ihre Mutter Zora Jandová nicht verleugnen. Beide Mädchen haben das Konservatorium absolviert und treten in ihren Rollen trotz ihres jugendlichen Alters absolut souverän auf. Ein von der Idee wie von der Umsetzung her ausgezeichnetes Duo sind Rumpelstilzchen und der Wolf. Alan Novotný als Rumpelstilzchen und Aleš Slanina als Wolf sprechen mit gepresster Stimme, schneiden Grimassen, singen aber auch schön, sie tragen klassische Märchenkostüme und sind einfach sehr unterhaltsam. Eine markante Rolle hat noch Schneewittchens Prinz Florian inne, der bei der Premiere sehr schön von Libor Matouš gesungen wurde. Vor dem Publikum defilieren ansonsten Dornröschen, der Kaiser mit den neuen Kleidern, Aschenputtel mit ihrem Prinzen, der Gestiefelte Kater, Pinocchio, Großvater Vševěd, die Schöne und das Ungeheuer, Hänsel und Gretel und weitere. Einfach eine tolle Show für Kinder, das einzige Problem könnte für sie die Länge der Vorstellung sein, so dass ich persönlich das Stück eher ab einem Alter von fünf oder sechs Jahren empfehlen würde, selbst wenn bei der Premiere auch noch kleinere Stöpsel dabei waren und die ganze Zeit durchhielten.
Nach den Worten der Dramaturgin Klára Latzková, die zusammen mit Regisseur Stano Slovák den Text adaptierte, hat das Autorentrio aus Pippa Cleary, Philip LaZebnik (er wurde bei der Premiere vorgestellt) und Ronald Kruschak seit 2017 an dem Sujet gearbeitet, um das Stück im Jahr 2018 in London als szenische Lesung aufzuführen. Anschließend wurde über den deutschen Theaterverlag Gallissas vereinbart, dass die weltweit erste Bühnenaufführung des Musicals gerade am Stadttheater Brno stattfinden soll.
Die Handlung erinnert ein wenig an die kleine Klara, die in Tschaikowskys Ballett Der Nussknacker ins Märchenreich ihrer Träume gelangt, oder auch an Alice im Wunderland. Mit Märchen hat das Stadttheater Brno reiche Erfahrungen, stets stießen sie auf eine sehr positive Resonanz des Publikums. Aus „längst vergangenen Zeiten“ sei wenigstens an Ein Garten voller Wunder (2004-2008), das seit 2010 gespielte Musical Mary Poppins oder an den Tapferen Schmied aus dem Jahr 2020 erinnert.
Pippa Clearys Musik für das Musical Schneewittchen und ich enthält keine Hits, ist aber dennoch eingängig, sie ist in mehreren Genres angesiedelt und wird durch das zahlenstarke Theaterorchester unter der Leitung von Dan Kalousek interpretiert, das wir erst am Ende der Vorstellung hinter der Szene sehen. Das großartige Bühnenbild aus steinernen Gebäuden wie auch aus mächtigen Bäumen mit fantastischen Formen ist das Werk des bewährten Christoph Weyers, für die märchenhaften Kostüme aller Akteure war die vor guten Ideen nur so sprühende Andrea Kučerová zuständig. Für die Entwürfe wir auch die Anfertigung der Puppen (so etwa auch des Froschkopfs für Florian) gebührt Jaroslav Milfajt höchste Anerkennung. Martin Pacek hatte keine leichte Aufgabe, für so viele Figuren eine sinnvolle Bewegung zu finden, doch es ist ihm gelungen. Eine so großartige Inszenierung wäre unvollständig ohne die effektvollen Projektionen des „Hoflieferanten“ Petr Hloušek. Stano Slovák nutzte den gesamten Bühnenraum bis zu den vorderen Sitzreihen, die Schauspieler und Sänger wirken natürlich und sympathisch. Man sollte diese Aufführung erlebt haben.
Schneewittchen und ich: Jeder von uns ist ein Ritter
Josef Meszáros 31. Januar 2022 zdroj www.scena.cz
Das Märchenmusical SCHNEEWITTCHEN UND ICH hat das Stadttheater Brno erobert, wo es am Samstag, dem 29. Januar 2022 seine Weltpremiere erlebte. „Nach längerer Zeit ist bei uns einmal wieder ein Musical termingerecht gestartet“, meinte dazu Regisseur Stano Slovák unter Verweis auf die Covid-Probleme bei anderen Titeln.
Wer freut sich nicht auf die klassische Geschichte von Schneewittchen, das von seiner bösen Stiefmutter, der Königin, gequält und schließlich in deren Auftrag vom Jäger in den tiefen Wald gebracht wird? Die Stiefmutter hofft, dass Schneewittchen den Gefahren des Waldes nicht gewachsen ist und dort umkommt. Aber das Schicksal will es anders, und Schneewittchen gelangt zu den sieben Zwergen. Doch halt – davon handelt das neue Stück nicht. Die Autoren Pippa Cleary (Musik und Songtexte), Philip LaZebnik (Libretto und Songtexte) und Ronald Kruschak (Libretto und Songtexte) nehmen Schneewittchen im Grunde als Inspirationsquelle. Der Zuschauer findet sich bei ihnen in einer Märchenwelt wieder, welche durch das Wirken der Königin in ihrer Existenz bedroht ist.
Im Vordergrund steht die halbwüchsige Daisy, die Märchen liebt. Ihr gefällt deren einfache Handlung – das Grundprinzip von Gut und Böse, ein wichtiges Modell für die Erziehung jedes Menschen. Eine verwickelte Geschichte, ein guter Ausgang und vor allem die Moral.
Die Geschichte beginnt mit einem Glockenspiel und dem Bersten eines Spiegels. In einer Ecke sitzt mit einer Lupe am Globus der alte Trödler. Die ganze Szene erinnert stark an Hans Christian Andersen, Lewis Carroll, die Brüder Grimm, aber auch an tschechische Märchenautoren wie Karel Jaromír Erben oder Božena Němcová.
Die Zuschauer werden Zeugen einer Szene, in der die Königein Schneewittchen mit nonchalantem Ausdruck einen Apfel anbietet. Diese fällt nach dem ersten Bissen in einen tiefen Schlaf. (Wiederum können wir uns hier auch an die biblische Geschichte von Adam und Eva erinnert fühlen…) Die weitere Handlung bringt diverse Märchenfiguren auf die Bühne: Rumpelstilzchen, Rotkäppchen und den Wolf, Dornröschen und ihren Prinzen, den Kaiser (mit seinen neuen Kleidern), Rapunzel (die aus dem Märchen der genannten Brüder Grimm) und ihren Prinzen, Aschenputtel samt Prinz, den Gestiefelten Kater, Pinocchio, Arielle, einen Zwerg (nur einen, denn die anderen müssen im Bergwerk für die Königin schuften), Großvater Vševěd, die Schöne und das Ungeheuer, die Gute Fee, Hänsel und Gretel und die weisen Frauen.
Auf den ersten Blick ein interessantes Gemenge, aber wir sind ja in der Märchenwelt. Die Königin versucht mit ihren unüberlegten Befehlen und Entscheidungen, ein glückliches Ende der Geschichten zu verunmöglichen. Von daher sollte Prinz Florian niemals zu Schneewittchen gelangen und sie mit seinem Kuss zum Leben erwecken. Der Wolf lässt sich nicht nur Rotkäppchen und die Großmutter schmecken, sondern auch noch die drei Schweinchen, die Geißlein, den kleinen Hirten und seine Schafe …
Die Märchenwelt gerät uns ganz schön durcheinander. Die an ihre fest vorgegebenen Geschichten mit gutem Ausgang gewöhnten Märchengestalten beginnen in all dem Chaos unterzugehen.
Da kommt Prinz Florian zu Wort. Er dringt durch Raum und Zeit (den Spiegel) bis in die Welt der Menschen vor, wo er Daisy und Sarah (der Heldin…) begegnet. Schließlich gelingt es ihm, die Macht der Königin zu brechen, womit alles sein gewohntes Ende findet…
Kommen wir damit zur eigentlichen Königin. Die Autorin haben darauf verzichtet, sie als böse oder als Hexe zu bezeichnen. Und das ist gut so, denn nichts in der Welt ist nur schwarz oder weiß, und die Beweggründe und Motive eines jeden von uns sind durch irgendetwas bedingt. Die kindlichen Zuschauer sollen das Böse in der Königin selbst entdecken. Sie sollen begreifen, dass nicht jedes Lächeln, nicht jedes liebenswürdige oder beschützerische Auftreten fremder Menschen aufrichtig ist. Hana Holišová bestätigt durch ihre Leistung, dass sie eine wirklich hervorragende Solistin ist. Sie genießt ihre Rolle bis in die kleinsten Details. Ihr despotischer Umgang mit Rumpelstilzchen und dem Wolf ist wirklich großartig. Ihre Arbeit mit dem Gesicht ist meisterhaft. Ihre Grimassen, seien sie siegesbewusst, wenn sie Freude über ihre eigene Gemeinheit zeigt, oder Ausdruck ihrer Niederlage oder Furcht (Ich habe schon rote Schuhe…), sind voller Wahrheit. Ähnliches gilt für ihre Intonation und ihre ausdrucksvolle gesangliche Phrasierung. Sie ist eine wirkliche KÖNIGIN, treibt die Handlung voran und ist der Kopf hinter allem Bösen.
Rumpelstilzchen (Alan Novotný) und der Wolf (Aleš Slanina). Ein effektvolles komisches Duo. Jedes Märchen braucht irgendeinen Wirrkopf. Die beiden Herren sind sehr liebenswerte und zauberhafte Antihelden. Rumpelstilzchen fasziniert mit seiner Punkfrisur, aber auch seinem bunten gestrickten Mantel. Bewundernswert ist, wie er seine Requisite handhabt – die ganze Zeit muss er sein „adoptiertes“ Kind halten. Der von Aleš Slanina gespielte Wolf lässt schon bei seinem Anblick Furcht aufkommen (ausgezeichnet gestaltetes Kostüm, die Fettleibigkeit überzeugt genauso wie die Ohren oder der Schwanz). Slanina bietet angsteinflößendes Heulen, aber auch aufmunternde Gesten, als er sich mit Rumpelstilzchen zu versöhnen versucht.
Der von Libor Matouš gespielte Florian, ein imaginärer Prinz, der später in einen Frosch verwandelt wird, gefällt vor allem durch seinen Gesang. Sein Stimmumfang ist beeindruckend. Seine Zerstreutheit, das verlorene und wiedergefundene Selbstbewusstsein ist klar spürbar und ein Teil der gegebenen Figur.
Die zwei halbwüchsigen Mädchen Sarah (Ester Mertová) und Daisy (Barbora Slaninová) ergänzen einander, ihr Gezanke zeigt ein ausgewogenes Niveau. Es ist keine Feindseligkeit oder Bosheit, vielmehr sucht eher die eine einen Weg zur anderen, und gegenseitig ergänzen sie sich. Barbora Slaninová kommt mir der Rolle der braven Prinzessin wunderbar klar. Ganz offen gibt sie ihre kindlichen Wünsche preis. Wer möchte nicht eine Prinzessin sein, im Luxus leben, schöne Kleider und ein bequemes Leben haben… Ester Mertová ist der Inbegriff einer reifen Schauspielerin und Sängerin. Ihre Stimmfärbung und ihre Gestalt erinnern stark an Zora Jandová. Es ist gut und hervorragend, dass sie in der Lage ist, auf der Bühne sich selbst zu präsentieren und zu nutzen, was ihr in die Wiege gelegt wurde. Hut ab vor ihrem Wandel von einem Wildfang zu einer Prinzessin.
Die Musik von Pippa Cleary ist nicht besonders ausdrucksvoll, bietet keine Hits und auch keine meisterhaften Passagen. Gewiss stört sie weder die Handlung noch die Szenerie. Zu würdigen ist die Buntheit der Genres – als würde der Trödler beliebige alte Platten auflegen. Wir nehmen an, dass dieser Eindruck von den Autoren so beabsichtigt war. Im Märchenreich ist auch ein musikalisches Kaleidoskop akzeptabel.
Das Bühnenbild von Christoph Weyers erfüllt alle Ansprüche an Universalität. Der von ihm geschaffene Wald ist tatsächlich Fantasy – kein Böhmerwald, kein Kanada, Norwegen, auch kein Afrika oder Südamerika. Ein echter Märchenwald. Manche Blüten erinnern in der Tat an fleischfressende Pflanzen, aber das ist bloße Spekulation. Weyers nutzte den Archetyp des Buches – schließlich erzählen wir eine Geschichte. Dieses Buch ist Bestandteil des Proszeniums, zum Abschluss erscheint es auch in der Projektion. Die letzte Seite wird zugeschlagen, ein rotes Lesezeichen zeigt, wo wir geendet haben. Es zieht sich über die Bühne bis zum Zuschauerraum als eine Art imaginärer roter Teppich, alle Figuren sind berühmte Helden, also sollen sie ihren Ruhm genießen. Oder wie ein roter Lebensfaden, ganz wie Sie wollen… Jeder schreibt seine Geschichte, und diese spiegelt sich in allen Teilen der Dekoration wider: dem Gemach der Königin, dem Märchenwald, beim Lebkuchenhaus, dem Versteck im Wald, dem Schloss der Königin… Dazu gibt es sehr dezente begleitende Projektionen.
Andrea Kučerová hat als Kostümbildnerin alle Herausforderungen bei der Gestaltung der Märchenfiguren souverän gemeistert. Bei Prinzen und Prinzessinnen ist das kein Kunststück, aber Pinocchio zum Beispiel brauchte eine wachsende Nase – und auch die ist ihr gelungen. Den Wolf haben wir schon erwähnt, aber seine Krallen!!! Fantastisch! In eine ganz andere Richtung geht dagegen das zivile Kostüm der Sarah, das ebenfalls ausgezeichnet gelungen ist.
Choreograf Martin Pacek hat hervorragend alle Reigen, alle Verwünschungen, alle Balltänze, die Bewegungen des Wolfs und von Rumpelstilzchen bewältigt. Großen Nachdruck legt er auf die Biegung des Rumpfes. Eine Verbeugung, eine Geste der Demut oder der Speichelleckerei? Dies alles hat er in den gegebenen Ausdruck gelegt.
Die Akteure mussten auch den Umgang mit ihren Requisiten beherrschen, vor allem mit den Puppenköpfen von Jaroslav Milfajt, welche die einzelnen Märchenwesen darstellen. Florian musste zum Schluss einen Froschkopf tragen.
Regisseur Stano Slovák leitet die Schauspieler zur Ausgewogenheit an. Bei niemandem auf der Bühne war eine falsche Karikatur oder ein übertriebener Ausdruck zu beobachten. Hervorzuheben sind die Arbeit mit dem Raum unter der Bühne und insbesondere das Improvisationstalent der Akteure, sei es nun Hana Holišová, Libor Matouš, Alan Novotný oder Aleš Slanina. Diese hatten die Möglichkeit, mit den Zuschauern wortwörtlich von Angesicht zu Angesicht zu arbeiten. Der starke Akzent auf der allgemeinen Botschaft des Guten gegenüber dem Publikum ist wirklich ein Höhepunkt im Wirken des Regisseurs, für den ihm unser Dank gebührt.
Die Stärke des Sujets liegt vor allem in der Mobilisierung, dass jeder seine Geschichte leben soll, sich befreien soll von der Diktatur der Werbeslogans, dem oberflächlichen Wirbel der sozialen Netzwerke und vor allem der mobilen Nichtigkeit, in der der größte Teil der jungen Generation schwimmt, an der sie sich berauscht und in der Online-Welt versinkt. Dafür gilt den Autoren wie den Inszenatoren des Stückes unser größter Dank. Ersteren dafür, dass sie es geschafft haben, diese energiegeladene Geschichte von der Individualität eines jeden von uns niederzuschreiben, letzteren dafür, dass sie diese Gedanken auf die Bühne gebracht haben, von wo sie als lebensspendender Quell die Botschaft verbreiten: Trage Verantwortung für dich selbst und sei vor allem auch für andere da. In dem Märchenmusical geht es damit nicht nur um Schneewittchen, sondern um jeden, unabhängig von seinem Alter oder gesellschaftlichen Status. Daher das „ich“. ENDE.